Kein Transportmittel
Professor Higgs war nicht nur ein direkter Nachfahre des Physikers, nach dem das Teilchen benannt wurde. Er war auch theoretischer Physiker. Das war sein Fehler.
Wäre er Techniker gewesen, oder zumindest aus der praktischen Abteilung der Physiker gekommen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber das ist Theorie.
So aber hatte er eines Morgens etwas wie einen Gedankenblitz. Er war zwar weit über das Alter hinaus, von dem behauptet wird, dass man wichtige Ideen lieber vorher hätte haben sollen, weil danach die Gehirnleistung dazu nicht mehr ausreichend war, aber dennoch! Im gegensatz zu Albert (Er nannte Einstein immer beim Vornamen) und Hawking (Er hätte ihn nie - auch nicht in Gedanken - Stephen zu im gesagt) war er weit über die 50.
Da er theoretischer Physiker war, und kein antiker Philosoph lief er auch weder nackt durch die Gegend, noch schrie er "Heureka" oder machte ähnlichen Unsinn. Es könnte auch daran gelegen haben, dass er sich zum Zeitpunkt des Gedankenblitzes gar nicht im Bad befand. Wer weiß?
Eigentlich war es ganz einfach. So ähnlich wie beim Ei des Kolumbus, nachher lässt sich das ganz einfach nachmachen, ja man kann sich sogar auf die Stirne schlagen und fragen, warum man selbst nicht auf diese Idee gekommen ist. Trotzdem hatten alle möglichen - sogar extrem intelligente - Forscher diese Idee nicht gehabt: Um die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, musste man einfach aus dem Universum herauskommen. Weil im Universum war sie die höchste Geschwindigkeit.
Der Trick bestand einfach darin, die höchste Geschwindigkeit (Lichtgeschwindigkeit) mit dem kehrwert der langsamsten Geschwindigkeit zu multiplizieren und davon die Gravitationskonstante abzuziehen. Wie gesagt: Da hätte jeder drauf kommen können. Kam aber nicht. Außer natürlich unser Professor Higgs.
Die langsamste Geschwindigkeit ist aber nicht der simple Stillstand, sondern der Stillstand aller Moleküle, Atome, Atomteilchen und deren ganzer Bestandteilchen. Der absolute Nullpunkt. 0 Kelvin. Keine Bewegung = keine Strahlung.
Wie gesagt, Professor Higgs war theoretischer Physiker. Dennoch erkannte er sofort, was diese hübsche Formel auf seinem Tablet bedeutete: Der Traum der Science-Fiction Autoren von Jahrhunderten war wahr geworden: Endlich war Beamen möglich. Und nicht nur das, die Gravitation würde sogar dazu führen, dass - vorausgesetzt der Apparat würde einigermaßen vernünftig gebaut - der Energieaufwand sehr gering sein würde. Überraschend gering.
Professor Higgs nahm die nächste Gelegenheit wahr, um den Rektor der Fakultät mit seinen Ideen zu konfrontieren. Leider war auch der Rektor theoretischer Physiker. Dies ermöglichte ihm zwar, die Genialität der einfachen Formel auf Anhieb zu erkennen. Mehr aber nicht.
"Aber Herr Rektor! Es muss ihnen doch klar sein, dass dies endlich das ideale Transportmittel sein wird. Sehen sie hier die Ableitung über den Energieaufwand." Mit diesen Worten übertrug er die Formel für den Energieaufwand auf das Tablet des Rektors. 452 Seiten. Die letzten 3 Zeichen der Formel waren einfach und lauteten:
= 0
Die vorherigen 452 Seiten waren der linke Term. Kleingedruckt. Verschachtelt.
Der Rektor blinzelte fassungslos mit den kurzsichtigen Augen auf das Zahlen- und Symbolkuddelmuddel. Leider war er auch noch jung und einerseits durch das Alter, andrerseits das Auftreten des Professor Higgs in die Defensive gedrängt. Statt einfach zuzugeben, dass er - und das wäre selbstverständlich keine Schande gewesen (immerhin 452 Seiten!) - die Formel nicht verstand, starrte er nur wie gelähmt auf sein Tablet und blätterte hilflos vor und zurück. Er konzentrierte sich ausschließlich darauf, wohlwollend und wissend auszusehen. Auch Rektoren sind nur Menschen.
Und so nahm die Geschichte ihren Verlauf und wurde zum Desaster.
Zuerst noch langsam. Wer liest auch schon die Veröffentlichungen eines theoretischen Physikers auf einer theophywiki.edu genannten Website? Abgesehen von theoretischen Physikern nur Leute, die dahinter etwas religiöses vermutet hatten und sehr enttäuscht waren, mit 452 Seiten Krizelzeugs konfrontiert zu werden (und das nur im Anhang!)
6 Wochen später wurde Professor Higgs in das Büro des Rektors gebeten. Dieser stellte einen Mann vor, dessen "Hauch" der Bürokratie schon eher in Richtung Gestank ging. Er saß verkrümmt auf dem Besucherstuhl, blätterte durch das Inhaltsverzeichnis des Handkatalogs des Hauptverzeichnisses der weltweiten Formulardatenbank und schüttelte den Kopf.
"Fachunterkontrollor Meier mein Name. Sagen sie mal, Herr" der Bürokrat öffnete den Notizblock "Professer Higgs - 2 g ist das richtig? -" er wartete keine Antwort ab und fuhr fort "wie in aller Welt kommen Sie auf die Idee, einen Antrag auf Erteilung einer Genehmigung zur Erforschung und Evaluierung einer möglichen Errichtung einer Transportanlage formlos " beim Wort formlos konnte man ein mittelschweres Beben in seiner Stimme hören "und noch dazu über theophywiki.edu einzureichen?"
Er sah schwer getroffen aus. Geradezu gebrochen. Als hätte es jemand ganz genau und nur auf ihn, den Fachunterkontrollor Meier abgesehen.
"Aber Herr Meier ..." meinte der Rektor und wurde sofort von einem Blick bestraft, der ihn verstummen ließ.
"Fachunterkontrollor Meier" hauchte der Bürokrat.
Professor Higgs mischte sich ein "Aber mein lieber Herr Fachunterkontrollor Meier ..." (in diesen schien ein wenig Leben zurückzukehren) "... ich hatte doch gar nicht die Absicht ..."
"Herr Professor" - wieder das Blättern - "Higgs, Absichten sind völlig unerheblich. Fest steht, dass es nicht auf Absichten ankommt, sondern auf das korrekte und vollständige Ausfüllen der unabdingbar notwendigen Formulare. In diesem Fall R753-k/52 Antrag auf Erteilung einer Genehmigung zur Erforschung und Evaluierung einer möglichen Errichtung einer Transportanlage.
Aber dafür bin ich ja da.
Wir sind ja keine unnötige Bürokratie." Meier lächelte völlig überzeugt "Ich habe schon mal das Formular für Sie vorausgefüllt, sie müssen nur noch die Seiten 12 bis 32 sowie 115, 117, 211 und 328 vollständig ausfüllen und dann alles digital signieren."
Fachunterkontrollor Meier blickte strahlend auf den Professor und übertrug mit einer fast huldvollen Bewegung des Daumens das Formular auf das Tablet des Professor Higgs. Nun war der an der Reihe die 328 Seiten ungläubig anzublinkern.
4 Tage später hatte er alle Seiten beantwortet. Er fragte sich schon gar nicht mehr, was sein Jahresgehalt, seine Schuhnummer und ähnliche Dinge mit dem Antrag zu tun haben sollten.
In ihm machte sich nur der Verdacht breit, dass niemand an seinem revolutionären Transportmittel Interesse hatte. Obwohl es doch ohne Fremde Energie funktionieren würde. Was die praktische Umsetzung enorm vereinfachen würde.
Normalerweise musste man bei einem hohen Energieaufwand den Strahl des Senders optimal konzentrieren und bündeln und auf den Empfänger ausrichten. Sonst wären die Kosten unerträglich. Aber 3 Kollegen aus anderen Abteilungen hatten bestätigt, dass dies in dem speziellen Fall unnötig wäre: Einfach mehr Energie auf den Sender (ihm als Theoretiker schauderte alleine bei der Herangehensweise) und man könnte die Sendung als ganz normale Kugelwelle sozusagen "rundum" abstrahlen. Der Empfänger bekam genug Input um den Gegenstand wieder zusammenzusetzen. Wie damals, vor über 600 Jahren als es noch ein Radio gab.
Sein Verdacht wurde dadurch erhärtet, dass Fachunterkontrollor Meier in unregelmäßigen Abständen wiederkam und neue Formulare bereit hatte, die es sorgfältigst auszufüllen galt.
Professor Higgs war nach dem achten Besuch bereits der felsenfesten Überzeugung, dass das jetzt vorgelegte Formular R753k/94-z von Fachunterkontrollor Meier selbst erfunden war. Was nur zum Teil stimmte.
Jedenfalls stand für ihn fest, dass es kein Transportmittel mit dem Higgs Effekt geben würde. Niemals. Nur noch mehr Bürokratie.
Also handelte er. Und das war von einem theoretischen Physiker so nicht erwartet worden. Der Rest ist Geschichte.
Als Fachunterkontrollor Meier 1 Stunde später in sein Büro platzte, sah er irgendwie verändert aus.
Das lag wohl einerseits an den hervorquellenden Adern auf der Stirn, als auch am Umstand, dass er den Besucherstuhl beiseitetrat und sich - er war überraschend groß und muskulös, wie Professor Higgs plötzlich bemerkte - über ebendiesen beugte.
"Sind sie völlig wahnsinnig geworden?" zischte er Higgs an.
"Aber lieber Herr Fachunterkontrollor Meier ...."
Meier straffte sich, atmete durch und sprach leise und eisig: "Vergessen sie den Fachunterkontrollor Meier. Ich bin Oberst Meier vom WSD. Dem weltweiten Sicherheitsdienst, falls Sie das noch nicht gehört haben sollten."
Er fuhr fort: "Wie können Sie auf die Idee kommen, ihren Artikel einfach global freizuschalten? Ist ihnen nie die Idee gekommen, dass es eine Absicht dahinter gibt, wenn wir eine Idee bürokratisch abwürgen?
Glauben Sie wirklich, dahinter stecke dumme Bürokratie oder Böswilligkeit?
Denken Sie, die Weltregierung wäre gegen die Menschen?
Leben Sie in einem Kriminalroman oder leiden Sie unter Verfolgungwahn - Ihre Akten sprechen eindeutig dagegen!"
Oberst Meier ließ sich auf den Besucherstuhl fallen: "Jedenfalls haben Sie eines erreicht: Sie haben die Wirtschaft zerstört, das soziale Gefüge zermalmt und dafür werden Sie in die Geschichte eingehen."
Professor Higgs starrte ihn entsetzt an.
"Sie haben es wirklich nicht erkannt," stellte Oberst Meier überrascht fest "welche Auswirkungen ihr sogenanntes Transportmittel hat?
Sind sie denn nie auf die Idee gekommen, dass es möglich ist, alles damit zu transportieren? Genaugenommen alles und Jeden?
Und die Tatsache, dass es bei einer Kugelwelle möglich ist, statt einem Empfänger zwei oder fünf oder 100.000 Empfänger aufzustellen?
In jedem dieser Empfänger wird der Gegenstand oder auch die Person als exaktes Duplikat wiedererstellt!
Unser Wirtschaftssystem basiert darauf, dass Gegenstände oder Leistungen in einer begrenzten Anzahl vorhanden sind und gegenseitig ausgetauscht werden.
Von den sozialen Katastrophen gar nicht zu sprechen, wenn plötzlich 100.000 voneinander nicht zu unterscheidende Ehemänner in ihr Haus zurückkehren wollen.
Ihr Gerät hätte - und das war unser Plan - dazu verwendet werden können, schweren Wasserstoff als Ausgangsmittel unserer Fusionsreaktoren zu vervielfältigen. Die Verschiebungen am Weltmarkt hätten wir bei sorgfältiger Dosierung so abfedern können, dass kein Schaden entstanden wäre.
Aber jetzt kann sich jeder so ein Gerät bauen. Und es dann vervielfältigen. Und dann alles vervielfältigen, was ihm in den Sinn kommt.
Sie haben unsere Kultur jedenfalls restlos ruiniert. Entschuldigen Sie, wenn ich mich dafür NICHT bedanke.
Aus Ihre Formel ergibt sich ein Vervielfältiger kein Transportmittel."
Der Oberst stand auf und verließ grußlos das Büro.
Als der Mob kurz danach eintraf, hallten im Gehirn des Professor Higgs immer noch die Worte nach: "Kein Transportmittel"